Ein Angeklagter ohne Emotionen

Im Westen, 15.05.2007, Von Roland Müller

Wetter. Nachdem eine Vielzahl von Zeugen gehört wurde, tritt der Mordprozess "Nadine" jetzt in eine entscheidende Phase. Mit Spannung wird auf das Gutachten des Kinder- und Jugendpsychiaters Prof. Johannes Hebebrand gewartet: Wird er empfehlen,

Zur Erinnerung: Der junge Mann, der 2006 am Geschwister-Scholl-Gymnasium Wetter das Abitur bestand, ist des Mordes angeklagt: Er soll in der Nacht vom 19. auf den 20. August die 15-jährige Nadine O. mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen, sie mit einem Telefonkabel gedrosselt und schließlich mit einem Küchenmesser zwölfmal zugestochen haben. In Kopf und Hals seines Opfers. Philipp J. hat die Tat zugegeben, kann sich aber an den genauen Hergang nicht erinnern. Er sei von seinem Opfer beleidigt worden und dann "ausgerastet", sagte er aus.

Da sitzt der junge, nicht sehr groß gewachsene Mann seit nun 15 Verhandlungstagen: immer ordentlich, unauffällig gekleidet; gelegentlich sucht er das Gespräch mit seinen beiden Verteidigern; sein Blick ist nach unten oder in die Akten gerichtet; nur selten schnellt sein Kopf nach oben, dann sind die wachen Augen hinter einer "Harry-Potter"-Brille zu erkennen.

An jedem Verhandlungstag werden Zeugen aufgerufen, ehemalige Mitschüler, Mitschülerinnen, Freunde, flüchtige Bekannte, die nur zwei, drei Meter enfernt von Philipp J. Platz nehmen. Prozessbeobachter gewinnen den Eindruck, dass die fast körperliche Nähe vertrauter Menschen den Angeklagten kaum berührt, die Verzweiflung, auch die Trauer enger Freunde ihn nicht erreicht - er blättert in den Akten.

Sitzt hier ein junger Mensch, dem der Gutachter eine "Entwicklungsverzögerung" attestieren wird, die in Folge die Anwendung des Jugendstrafrechtes (Höchststrafe bei Mord: 10 Jahre) nach sich zieht? In seinem Vorgutachten, das den Prozessbeteiligten seit Beginn der Hauptverhandlung vorliegt, deutet der Gutachter diese Möglichkeit an. Inwieweit der Verlauf des Prozesses zu einer gänzlich anderen Einschätzung führt, bleibt abzuwarten. Allerdings gilt auch: "Lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen, ob der Heranwachsende zur Tatzeit noch einem Jugendlichen gleichstand, ist nach dem Grundsatz ,in dubio pro reo' Jugendstrafrecht anzuwenden" (§105 Jugendgerichtsgesetz).

Ein Schlaglicht auf die Persönlichkeit des Angeklagten mag sein Verhalten im Internet werfen: Wer unter falschen (weiblichen) Identitäten Mitschülerinnen nach ihrer Unterwäsche befragt, sexuelle Praktiken beschreibt, rund 30 000 Pornobilder auf seinem Rechner archiviert, wird der Frage nach seiner sittlichen Reife nicht ausweichen können. An einer intimen Beziehung mit Philipp J. war keine Mitschülerin interessiert. Zwar galt der Angeklagte als jemand, "mit dem man viel Spaß haben konnte", doch musste er auch jede Menge Hänseleien einstecken, wie ein Zeuge sich erinnerte: "Das ging weit über das normale Maß hinaus."

Ein sehr zielgerichtetes Bild vermittelt der Anklagte hingegen, wenn er zur Veruntreuung der Abiturkasse befragt wird (die Rede ist von 10 000 E, 3 000 E räumt er ein). Als im Sommer letzten Jahres der Verdacht sich vehement gegen Philipp J. richtete, entzog der seinen "Mitkassierern" die Kontovollmacht: "Ich wäre ja sonst in Erklärungsnöte geraten." Und zum ersten Griff in die Kasse fühlte sich J. ermutigt, als er feststellte, "dass sich eigentlich niemand um das Konto kümmert".

Philipp J. sagt das nicht bekümmert oder mit einem Ton von Reue. Er sagt das ohne Emotionen.